Hilfen für den sprachlichen Alltag.

Rebecca Niazi-Shahabi

Bündnispartner gesucht / Auszug

Politische Auseinandersetzung

Ich bin guter Dinge, als ich im Bus nach Reinickendorf sitze. Nach dem Erlebnis mit Matthias hatte ich an den Parteibesuchen die Lust verloren. Doch es bestätigt sich, was ich mir erhofft habe: Auf diesem Wege kann man viele interessante Männer kennenlernen. Ob Kai heute Abend kommt? Schließlich handelt es sich ja nur um ein einfaches Treffen der Bezirksgruppe ohne besonderen Anlass. Und wie er wohl reagiert, wenn er mich sieht?

„Bernd ist zum zweiten Mal Vater geworden und kann nicht mehr für den Landtag kandidieren, er möchte zurücktreten“, eröffnet Karola mir und den zwei anderen Mitgliedern der Bezirksgruppe, die zu dem Treffen im Kiezzentrum gegenüber der S-Bahnstation gekommen sind.

„Wenn wir nur so wenige sind, gehen wir doch zu mir rüber, ich wohne in der Nähe, ich mache uns ein Abendbrot.“

Kai ist nicht da, ich will gehen. Die Gruppe besteht aus Karola und Marianne, zwei Frauen über fünfzig, und einer dicken Frau namens Vera in meinem Alter. Als wir vor die Tür des Kiezzentrums treten, kommt ein älterer Mann angelaufen.

Karola begrüßt ihn: „Hallo, Eckhardt, wir gehen zu mir.“ Dann stellt sie mich vor: „Übrigens, das ist Rebecca, sie interessiert sich für unsere Arbeit hier in Reinickendorf.“ Man nickt mir zur Begrüßung zu.

„Ja, aber wenn es heute eher ein privates Treffen wird, möchte ich nicht stören,“ versuche ich, mich zu verabschieden.

„Nein, überhaupt nicht, ich bestehe darauf, dass du mitkommst. Meine Wohnung ist gleich da drüben in dem Hochhaus. Ist doch viel gemütlicher als im Gemeindesaal.“

Oben, in ihrem winzigen Wohnzimmer im fünften Stock, sitzen ich und Vera auf dem Sofa, Eckhardt und Marianne haben auf Stühlen vor dem niedrigen Couchtisch Platz genommen. Karola ist in der Küche und kocht Kaffee. Gern würde ich nach Kai fragen, aber mir fällt kein harmloser Grund ein. Heute Abend werde ich ihn jedenfalls nicht mehr sehen, denn selbst, wenn er später kommt, kann er nicht wissen, dass wir bei Karola sind.

Jetzt, im Licht und nachdem Eckhardt seinen Mantel ausgezogen hat, sehe ich, wie er aussieht. Er hat wirres, ungewaschenes Haar, seine Kleidung sieht aus, als hätte er sie aus dem Altkleidercontainer gezogen. Er trägt einen zerknitterten, ausgeleierten Wollpullover mit einem schwer entzifferbaren Muster, dazu eine schmuddelige karierte Stoffhose. Aber Eckhardt ist nett, und er scheint alles über die politischen Verhältnisse insbesondere hier in seinem Bezirk zu wissen. Bereits in Karolas Flur hat er diverses Informationsmaterial aus seiner Tasche gezogen und es mir in die Hände gedrückt.

Eckhardt ist seit fast zwanzig Jahren bei den Grünen, und in diesen zwanzig Jahren hat niemand aus dem Kreisverband seine Wohnung betreten. Niemals hat er irgendjemanden zu sich nach Hause eingeladen. Das weiß ich von Vera, der Vorsitzenden dieses Kreisverbandes, denn sie hat es vorhin im Kiezzentrum in den wenigen Minuten, bevor Eckhardt erschienen ist, ihren Parteikolleginnen erzählt. Seit letzter Woche ist das nämlich anders, sie ist bei Eckhardt gewesen und sie hat seine Wohnung gesehen!

Nun eröffnet sie die Sitzung mit der Tagesordnung auf den Knien. Genau diese hatte sie vorgestern Eckhardt vorbeibringen wollen. Natürlich hätte man die Papiere auch mit der Post schicken können, nur wären sie dann vielleicht nicht rechtzeitig angekommen, hatte sie uns erklärt. Bei Eckhardt Adresse stand sein Name aber auf keinem der Klingelschilder. Ein Nachbar hat sie schließlich in den Hausflur gelassen und tatsächlich hat sie seinen Nachnamen auf einem der Briefkästen gefunden. Doch dann dachte Vera, jetzt, wo sie schon einmal hier sei, könnte sie die Papiere auch persönlich überreichen und klingelte an der einzigen Haustür ohne Namensschild – und es öffnete ihr Eckhardt. Er habe sie nicht in die Wohnung lassen wollen, sie aber habe sich an ihm vorbei in den dunklen Flur gedrängt, dessen Decke mit schwarzen Tüchern abgehängt war. Doch weit sei sie nicht gekommen, hatte sie uns im Kiezzentrum gestanden, wobei sie immer wieder nervös zum Eingang geblickt hatte, denn Eckhardt habe sie am Ärmel ihrer Jacke wieder vor die Tür gezogen. Nur einen kurzen Blick in eines der Zimmer hatte sie werfen können, da seien Kartons gewesen bis an die Zimmerdecke gestapelt und am Boden nur eine einfache Matratze.

„Hast du die Tagesordnung mit, die ich dir vorbeigebracht habe, Eckhardt?“, fragt Vera. Sie spricht mit lauter Stimme, aber bevor er antworten kann, sagt sie: „Ist ja auch egal, denn durch den Rücktritt von Bernd hat sich das Programm geändert, wir brauchen einen Nachfolger, Stefan könnte das machen. Wir sind zwar nicht vollzählig, aber lasst uns trotzdem abstimmen.“

„Da bin ich dagegen.“, sagt Eckhardt.

„Wieso bist du dagegen?“, fragt Vera pampig.

„Ich finde, wir sollten bis nächste Woche warten.“

„Warum denn?“

„Vielleicht möchte noch jemand anderes für den Landtag kandidieren?“

„Das ist egal,“ bestimmt Vera, „das habe ich mit Stefan und Sybille so beschlossen, wir stimmen heute darüber ab.“

„Ich will vielleicht auch für das Amt kandidieren.“ Eckhardt ist rot im Gesicht, seine Arme zittern, er ist wütend, alle sehen es. Karola ist in der Tür stehen geblieben, Marianne sitzt wie erstarrt, nur Vera bemerkt nichts.

„Du? Du bist ja blöd!“

Eckhardt schreit zurück: „Und du bist eine ganz faule Sau, bist du.“

Vera schreit jetzt auch: „Du kannst ja keinen normalen Satz sprechen, so blöd bist du!“

Eckhardt springt auf, stürzt sich auf Vera, reißt seine Arme nach vorne. Ich sehe sein Gesicht vor mir, Eckhardt will die Vera würgen! Nun ist auch sie schockiert, und dann, bevor Eckhardt der Vera an die Gurgel gehen kann, sehe ich, dass er merkt, was er tut. Er hält inne, aber er kann den Sprung nach vorne nicht mehr stoppen. Mit ausgestreckten Armen fällt er auf seine beleibte Parteigenossin. Dann unternimmt er einen verzweifelten Versuch, seinem tätlichen Angriff eine andere Färbung zu geben. Er umarmt Vera und ruft: „Vera, ich mag dich!“

Marianne zerrt Eckhardt wieder auf seinen Stuhl zurück. Ich bin fassungslos. Ich will etwas sagen, um Eckhardt zu helfen, doch mir fehlen die Worte.

Nach dieser Szene ordnen alle wieder ihre Kleider und versuchen, normal weiter zu sprechen. Die Sitzung ist schnell zu Ende. Eckhardt geht zuerst und vergisst seine Tasche. Niemand läuft ihm ins Treppenhaus hinterher, um sie ihm zu geben.

„War das nicht komisch?“, fragt Vera, kaum, dass er gegangen ist.

„Ja, aber du hast ihn auch gereizt,“ sagt Marianne.

„Ich lass mir doch von Eckhardt nicht den Mund verbieten!“

Karola und Marianne versuchen, sie zu besänftigen. Eckhardt ist ein alter Parteigenosse, ein harmloser Mann, so wie heute, hat er sich noch nie verhalten. Vera scheint sich wieder zu beruhigen.

„Komm doch übermorgen zu unserer Veranstaltung zum Tag der Deutschen Einheit, das wird bestimmt interessant,“ lädt mich Karola zum Abschied ein.

(…)

Zwei Tage später bekommen sämtliche Mitglieder in Berlin-Nord und ich eine Rundmail mit folgendem Inhalt:

In der letzten Sitzung des Bezirksverbandes Reinickendorf am 01.10.08 wurde ich tätlich angegriffen. Übergriffe von Männern auf Frauen in politischen Diskussionen, sind in keinster Weise akzeptabel und wir als politisch aktive Frauen verurteilen dieses aggressive Verhalten auf das Schärfste. Wie vielleicht bereits einige von euch wissen, geht es um Eckhardt S…