Hilfen für den sprachlichen Alltag.

Rebecca Niazi-Shahabi

Ich bleib so scheisse wie ich bin

Ich bleib so Scheiße wie ich bin / Auszug

Bleiben Sie dick, eitel, gierig, jähzornig – und glaubwürdig: vom Märchen der permanenten Weiterentwicklung.
Jeder Mensch erfindet sich eine Geschichte, die er dann, oft unter gewaltigen Opfern, für sein Leben hält.
Max Frisch

Andere sind alkohol- oder fernsehsüchtig, rauchen schachtelweise Zigaretten, essen Schokolade oder haben zu viel Sex. Ich war süchtig nach Lebensläufen. Es war ein regelrechter Zwang. Wann immer ich sie in die Hand bekam, studierte ich sie genau: die Lebenswege erfolgreicher Menschen, bekannter Künstler, Sportlerinnen, Forscher, Tänzer, Schauspielerinnen, Architekten, Regisseure, Weltumsegler, Schriftsteller. Wann haben sie angefangen zu üben, zu schreiben, zu tanzen, zu entwerfen oder zu segeln? Wie lange dauerte es, bis sie damit berühmt wurden. Wann haben sie sich entschieden, sich dieser einen Sache zu widmen? Mussten sie dafür ihr altes Leben hinwerfen und ein neues beginnen? Wichtigste Frage dabei: Kann ich das auch noch schaffen? Wird es möglich sein – wenn ich gleich heute anfange – das Ruder herumzureißen und doch noch etwas aus meinem Leben zu machen?

Je älter ich wurde, desto schwieriger wurde es, Lebensläufe zu finden, die ich mit meinem Werdegang vergleichen konnte: Viten von Balletttänzern und Orchestermusikerinnen, die mit drei oder vier Jahren das erste Mal ihr Instrument in der Hand gehalten oder die ersten Tanzschritte geprobt hatten, wurden sofort aussortiert. Das war für mich sowieso nicht mehr aufzuholen, denn ich habe als Kind keinen Tanz- oder Musikunterricht gehabt und auch sonst gab es nichts, was ich als Kind schon gerne getan hätte und an dem sich in der Gegenwart nahtlos anknüpfen ließe.

Irgendwann war ich in dem Alter, in dem die erste Karriere vieler Menschen schon wieder zu Ende ist. Die Lebensläufe, die mir geben konnten, wonach ich suchte, waren echte Raritäten. Existierten Menschen, die vielleicht erst mit 28 Jahren ihre wahre Bestimmung gefunden hatten und dann umso schneller durchgestartet waren? Wie hießen sie, was machten sie heute, wann konnte man Interviews mit ihnen im Radio hören, in denen sie schildern, wie sie rückblickend begreifen, dass ihr Erfolg ohne die Brüche in ihrer Biografie nicht denkbar wäre. Ich dürstete danach, von Frauen und Männern zu lesen, die den Mut gehabt hatten, mit Mitte vierzig oder fünfzig ihre Träume zu verwirklichen. Auch ich würde hart arbeiten, wenn sich ein lohnendes Ziel gefunden hätte. Ich war bereit, den ersten Schritt zu tun, wenn ich die Gewissheit hätte, dass der Weg Schritt für Schritt in die richtige Richtung führte. Aber bis zu dem Zeitpunkt sah es so aus, als sei ich nur wahllos auf einem Acker neben meinem eigentlichen Lebensweg herumgetrampelt, und diese Tatsache machte mich traurig und verzweifelt.

Wie hatte das passieren können, einem Menschen wie mir, mit so vielen Talenten und Möglichkeiten, wie mir Zeit meines Lebens von Lehrern, Eltern und Freunden versichert wurde. So viele Chancen warteten auf mich, warum ergriff ich sie nicht?

Zehn Jahre Aufschub verschafften mir die Erkenntnis, dass wir eine durchschnittlich zehn Jahre höhere Lebenserwartung haben als vorangegangene Generationen, ich also getrost bei allen Angaben ein ganzes Jahrzehnt dazuzählen durfte. Hatte ich die Biografie einer Frau entdeckt, die im Jahr 1960 im reifen Alter von 32 Jahren ihren Traummann gefunden hatte, mit ihm gemeinsam nach Rio ausgewandert war und dort eine Tanzschule und eine Familie gegründet hatte, dann konnte man guten Gewissens behaupten, dass sie nach heutiger Rechnung ungefähr 42 Jahre alt gewesen war – also in meinem Alter.

Bald musste ich mir eingestehen, dass für Menschen wie mich nur noch eine überraschende Karriere möglich war. Nur ein ungewöhnliches Ereignis würde aus meinem Leben noch eine Erfolgsgeschichte machen.

Viele Menschen warten insgeheim darauf, dass etwas passiert, was ihrem Dasein eine entscheidende Wendung gibt. Ein Einfall oder eine Begegnung, die sie plötzlich ihr Leben unter ganz neuen Gesichtspunkten sehen lässt, sodass, was ihnen bisher willkürlich und unzusammenhängend erschien, mit einem Male Struktur erhielte. Dieses Ereignis wäre wie ein schon verloren geglaubtes Puzzlestück, das, kaum an seinen Platz gesetzt, die Vergangenheit ordnet, sodass sich die Zukunft wie ein roter Teppich vor einem ausrollt: Man braucht nur noch dieser Spur zu folgen…