Hilfen für den sprachlichen Alltag.

Rebecca Niazi-Shahabi

Leichte Liebe / Auszug

„Ich weiß nicht, wo er ist,“ sagt Martha. „Bei mir hat er sich nicht gemeldet. Und falls du ihn sprechen solltest, kannst du ihm von mir ausrichten, dass er sich auch nicht mehr zu melden braucht.“

Beinahe fünf Wochen ist es jetzt her, dass Martha zuletzt etwas von Antoine gehört hat. An einem Mittwochvormittag hat er nach einem Telefonat ihre gemeinsame Wohnung in München Schwabing verlassen und ist seitdem nicht wieder aufgetaucht. Sie hat keine Ahnung, wohin er wollte und mit wem er kurz vorher gesprochen hat, wusste sie nicht. Und auch sonst scheint niemand zu wissen, wo er ist, denn ständig rufen irgendwelche Leute bei Martha an, die ihn ebenfalls seit dem besagten Mittwoch nicht mehr gesehen haben: Jeden Tag ab elf Uhr klingele ununterbrochen das Telefon, sie gehe ja schon gar nicht mehr ran, klagt Martha, denn in den seltensten Fällen sei es für sie. Es mache ihr nämlich keinen Spaß, beschwert sie sich weiter, nahezu täglich mit Antoines Freunden zu reden. „Wenn er da ist, macht er nur Ärger und wenn er nicht da ist, auch,“ sagt sie. Sie komme wirklich nicht zur Ruhe. Und Ruhe wäre etwas, was sie nach all den Jahren dringend brauchen könne.

Auch ich gehöre zu den Leuten, die ihre Ruhe stören: Seit vier Wochen rufe ich jeden zweiten Morgen bei ihr an, um zu fragen, ob mein Vater sich gemeldet hat und jedes Mal antwortet sie, dass er das nicht getan hat. Inzwischen brauche ich sie gar nicht mehr zu fragen – schon wenn sie meine Stimme hört, erklärt sie barsch: „Er ist nicht da, du hättest nicht anzurufen brauchen“, und dann beklagt sie sich, wie unmöglich von ihm es sei, sich einfach so fort zu schleichen und was er alles hätte erledigen müssen, aber nicht erledigt habe, bevor er an jenem Mittwoch aus dem Haus ging: Das Auto abmelden, das nasse Laub auf der Terrasse aufkehren, einkaufen, die Küche putzen und die Wäsche aufhängen, die er zwei Tage vor seinem Verschwinden gewaschen hat. Nun hat Martha die Wäsche ein zweites Mal gewaschen und selbst aufgehängt, die Küche und das Bad geputzt, das Auto abgemeldet, die Raten für den Kredit eingezahlt und eine neue Glühbirne in die Flurlampe geschraubt. Das Ergebnis dieser Anstrengungen war vorhersehbar: Sie hat wieder Rückenschmerzen. Zwei Nächte habe sie vor Schmerzen nicht schlafen können und über eine Woche lang habe sie täglich ihre Ärztin aufsuchen müssen, um sich eine Spritze geben zu lassen. Schlecht sei es ihr gegangen, um nicht zu sagen entsetzlich schlecht. Aber wie es ihr geht, dafür hat sich Antoine ja noch nie interessiert.

„Mir ist egal, wo er ist,“ höre ich ihre Stimme aus dem Telefonhörer, den ich ein Stück von meinem Ohr entfernt halte, ich verstehe trotzdem jedes Wort. „Am liebsten wäre es mir“, sagt sie, „er käme nur noch ein einziges und letztes Mal vorbei und holte den Müll ab, den er hier sechsunddreißig Jahre lang angesammelt hat. Der Schrank in seinem Zimmer ist vollgestopft Zeug: Lederjacken, Hemden mit Kugelschreiberflecken auf der Tasche, Hosen und kaputte Schuhe, alte Koffer und wer weiß, was noch alles. Von mir ist in diesem Schrank jedenfalls kein einziges Kleidungsstück mehr zu finden. Überall im ganzen Haus liegen seine Sachen herum, den Keller kann man gar nicht mehr betreten, das Auto ist ein einziger Aschenbecher, ganz unten im Wäschekorb schimmeln seine Jeans.“

Was ich wissen wollte, weiß ich jetzt und das, was nun folgt, kenne ich auswendig: Martha hat anderes zu tun, als hinter meinem Vater herzutelefonieren und ihn anzuflehen, doch wieder zu ihr zurückzukommen. Ganz im Gegenteil: Sie wäre froh, wenn er bei irgend einer anderen untergekommen wäre, auch wenn es ihr leid täte um diese Frau, die sehr schnell herausfinden werde, wie es sich lebt mit einem Mann wie ihm.

Sorgen scheint Martha sich keine zu machen. Ich halte den Hörer wieder ans Ohr und frage in ihren Redestrom hinein: „Und wenn ihm was passiert ist?“ Sie schnaubt halb verächtlich, halb belustigt: „Frag doch eine seiner Freundinnen, wo er steckt,“ und bevor sie weiterreden kann, sage ich: „Das habe ich schon.“

Diese unerwartete Wendung unseres Gesprächs bringt uns beide aus dem Konzept. Sie schweigt mehrere Sekunden, ich wundere mich, wie mir dieser Satz rausrutschten konnte und überlege, wie ich das wiedergutmachen kann, viel Zeit habe ich nicht, denn Martha hat natürlich als erste ihre Fassung zurück und sagt kühl und vollkommen beherrscht: „Du Verräterin. Ich habe dir vertraut, ich habe geglaubt, du bist anders als dein Vater. Ein durchtriebenes Stück bist du, setzt dich an meinen Küchentisch und lachst mir ins Gesicht, obwohl du dich kurz vorher mit ihm und seinen Schlampen getroffen hast, hier um die Ecke in den Schwabinger Cafés, so dass alle sehen können, wie dein Vater mich hintergeht.“ Ich zucke zusammen, denn sie hat ja recht: Mein Vater ist so stolz auf jede einzelne seiner Eroberungen, dass er sich nicht verkneifen kann, sie mir vorzustellen, wenn ich in München bin. Oft, wenn er sich angeblich nur mit mir allein zum Mittagessen im Café Atzinger oder im Schellingsalon treffen wollte, war, kaum, dass wir uns gesetzt hatten, eine elegant gekleidete Dame an unseren Tisch getreten, die mir verlegen die Hand reichte und beteuerte, wie froh sie sei, endlich Antoines Tochter kennenzulernen. Es war mir tatsächlich schwer gefallen, zwei Stunden später vor Martha so zu tun, als ob ich von dieser oder den anderen Frauen nichts wüsste.

Ich antworte ihr lieber nicht, jede Entgegnung würde dieses unangenehme Gespräch verlängern. Um wie viel spannender als mein eigenes ist das Liebesleben dieser siebzigjährigen Frau. Sie fühlt Eifersucht, Wut und Erleichterung und erlebt Versöhnung. Wenn mein Vater wiederkommt, wird er Blumen und Geschenke mitbringen, sie bekochen und ausführen. Wie dumm und ungeschickt von mir, dass ich ihr offenbart habe, wie viel ich über sie und ihn weiß.

Sie hat fast wieder zu ihrem üblichen Tonfall zurückgefunden. Irgendwie ist es beruhigend: Wenn sie sich nicht sorgt, dann kann ihm auch nichts passiert sein, denke ich. In diesem Moment sagt sie traurig und wie zu sich selbst: „Es ist absurd, dass ausgerechnet ich an einen Menschen wie deinen Vater geraten bin.“

Ich fühle mit ihr. Durch meinen Vater ist sie auch an mich geraten und ich bin an sie geraten und fremder können sich zwei Menschen nicht sein. Durch sein Verschwinden sind wir nun gezwungen, jeden zweiten Tag miteinander zu sprechen. Ich hätte nicht anrufen sollen. Ich bin mir aber leider überhaupt nicht sicher, ob sie sich bei mir melden würde, wenn sie eines Vormittags entdecken würde, dass er im Laufe der Nacht nach Hause gekommen ist und nun in voller Montur schlafend auf der Wohnzimmercouch liegt. Martha sagt nicht mehr, das Telefonat ist zu Ende.

Wie jedes Mal bitte ich sie, sich bei mir zu melden, sollte sie vor meinem nächsten Anruf etwas von meinem Vater hören, doch bevor ich diesen kurzen Satz beendet habe, fällt sie mir mit einem „Mach’s gut“ ins Wort und legt auf.

Es ist nicht das erste Mal, dass mein Vater einfach verschwindet. Menschen, die ihn gut kennen, wundern sich eher, wenn er zur vereinbarten Zeit am vereinbarten Ort erscheint. Er kann mitten auf der Straße während eines Spaziergangs oder Einkaufes entscheiden, dass er anderes, Wichtigeres, zu tun hat – ein kurzes Wort und schon rennt er über die Ampel. Ruft man ihn zwei Tage später an, tut er so, als wäre nichts geschehen, was einer Erklärung bedürfe. Einige Begebenheiten dieser Art sind mittlerweile legendär und werden in seiner Familie immer wieder erzählt, sobald das Gespräch auf ihn kommt: In den Siebzigern beispielsweise war er nach Israel gereist, um seine Mutter in Hulon, einem Vorort von Tel Aviv, zu besuchen. Dort war er dann am Vormittag nach seiner Ankunft aufgestanden und hatte seine Mutter gebeten, ihm einen Kaffee zu machen. Währenddessen wollte er sich unten am Kiosk eine Schachtel Zigaretten holen. Zwei Wochen später hat er wieder an ihrer Tür geklingelt. Meine Großmutter soll ihm die Tür geöffnet und ihn mit dem knappen Satz, dein Kaffee ist kalt, empfangen haben. Am nächsten Morgen ging sein Flug zurück nach München.